„Ich wünsche mir, dass die Kirche weiterhin eine starke Bündnispartnerin bleibt“

Die Lüneburger Heide gilt als Hotspot für völkische Siedler:innen und rechtsextreme Netzwerke. Dominique Haas, Rechtsextremismusbeauftragter des Landkreises Lüneburg, spricht im Interview über die Besonderheiten der Szene, ihre religiösen Bezüge, die Rolle der Kirche und gibt praktische Handlungsempfehlungen für Gemeinden und Engagierte.

Herr Haas, wie groß ist das Problem mit völkischen Siedlern im Raum Lüneburg? Gibt es Zahlen oder Schätzungen?

Haas: Das Problem ist tatsächlich sehr präsent. Die Lüneburger Heide ist einer der Hotspots für völkische Siedler:innen in Deutschland, was vor allem am demografischen Wandel liegt: Viele Menschen ziehen vom Land weg, sodass völkische Familien vergleichsweise günstig Höfe erwerben und sich in die Dorfgemeinschaft einbringen können. Sie treten oft zunächst als engagierte Nachbarn auf, übernehmen Ehrenämter und wirken unauffällig. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber Schätzungen gehen von 20 bis 30 Familien aus, möglicherweise mehr. Die Szene ist schwer zu fassen, weil sie bewusst im Verborgenen agiert – ohne Internetauftritt, mit klaren Abgrenzungen nach außen. Auch die Sprache ist geprägt von Begriffen aus dem Nationalsozialismus, etwa wenn der Computer als „Elektrojude“ bezeichnet wird. Kindern wird beigebracht, diese Sprache nicht nach außen zu tragen.

Welche Rolle spielen religiöse oder kirchliche Bezüge in diesen Gruppierungen? Gibt es Versuche, Kirchengemeinden zu unterwandern?

Haas: Hier gibt es zwei sehr unterschiedliche Ansätze: Die klassische völkische Ideologie ist meist antichristlich und bezieht sich stark auf heidnische, nordische Mythen. Es gibt in der extremen und vor allem in der Neuen Rechten aber auch eine Instrumentalisierung des Christentums, wie zum Beispiel bei Pegida, wo das „christliche Abendland“ als Identitätsmarker genutzt wird. Das ist jedoch selten eine theologische Auseinandersetzung, sondern dient eher als Abgrenzung nach außen: Christlich gleich deutsch, gleich weiß. Mir sind keine gezielten Versuche bekannt, dass völkische Siedler systematisch Kirchengemeinden unterwandern – sie engagieren sich eher in Sportvereinen oder der Freiwilligen Feuerwehr. Allerdings gibt es innerhalb der Kirchen auch konservative Strömungen, die mit rechtsextremen Positionen anschlussfähig sind, etwa in Fragen von Geschlechterrollen oder Migration. Hier ist es wichtig, aufmerksam zu bleiben und sich klar zu positionieren.

„Es ist wichtig, sich zu vernetzen, Bündnispartner zu suchen und sensibel für rechtsextreme Tendenzen zu bleiben.“

Dominique Haas, Rechtsextremismusbeauftragter im Landkreis Lüneburg

Wie hat die Corona-Pandemie die Szene verändert?

Haas: Die Pandemie wirkte wie ein Katalysator: Unterschiedlichste Gruppen – von klassischen Neonazis bis zu esoterischen Impfgegnern – fanden über gemeinsame Themen wie „Kinderschutz“ zusammen. Es entstanden neue Netzwerke, die sich gegenseitig verstärken. Gerade in der Zeit der Corona-Demonstrationen haben sich viele Menschen weiter nach rechts radikalisiert. Themen wie Gesundheit, Esoterik und Natur wurden mit völkischen und rassistischen Ideen aufgeladen. Besonders anschlussfähig war das Narrativ des Kinderschutzes, das viele Menschen erreicht hat, die vorher nicht offen rechtsextrem waren.

Gibt es Verbindungen zu internationalen Bewegungen oder gezielte Einflussnahme von außen, etwa aus Russland?

Haas: Die Anastasia-Bewegung, die aus Russland stammt, ist ein Beispiel für den Import solcher Ideologien. Dabei handelt es sich um eine Mischung aus Esoterik, Naturverbundenheit und rassistischen, antisemitischen Elementen. Allerdings ist mir keine gezielte Einflussnahme aus Russland bekannt. Vielmehr bedienen sich rechtsextreme Gruppen internationaler Narrative, wenn sie zu ihrer eigenen Ideologie passen – ähnlich wie auch rechtsextreme Akteure in den USA oder evangelikale Gruppen bestimmte Themen aufgreifen.

Welche Handlungsempfehlungen geben Sie Kirchengemeinden und Engagierten im Umgang mit Rechtsextremismus?

Haas: Zunächst: Niemand muss allein handeln. Es gibt zahlreiche Anlaufstellen, wie die mobile Beratung gegen Rechtsextremismus oder Netzwerke wie das „Netzwerk Südheide“ und die Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus. Wichtig ist, sich zu vernetzen, Bündnispartner zu suchen und sensibel für rechtsextreme Tendenzen zu bleiben. Wenn Unsicherheiten bestehen, sollte man Beratung in Anspruch nehmen. Praktisch hilfreich ist es auch, Bündnissen Räume und Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Zentral ist, sich klar zu positionieren, aber auch offen für Austausch zu bleiben – immer mit dem Bewusstsein, dass es Grenzen gibt, die nicht überschritten werden dürfen.

„Ich erlebe in der Region sehr engagierte Kirchengemeinden, sowohl in der Hansestadt als auch im ländlichen Raum.“

Dominique Haas, Rechtsextremismusbeauftragter im Landkreis Lüneburg

Wie erfolgversprechend ist der Dialog mit Menschen, die rechtsextreme Tendenzen zeigen?

Haas: In Workshops arbeite ich oft mit einem Zwiebelmodell: Im Kern sitzen gefestigte Neonazis und Funktionäre – mit diesen Menschen ist ein Dialog meist aussichtslos, da es ihnen nicht um Austausch, sondern ums Gewinnen geht. Erfolgversprechender ist der Dialog mit Menschen, die noch kein gefestigtes Weltbild haben. Hier kann es sinnvoll sein, nach den Motiven zu fragen und Verständnis für berechtigte Interessen zu zeigen, ohne rassistische Einstellungen zu akzeptieren. Wichtig ist auch, sich zu überlegen, was das Ziel des Gesprächs ist: Will ich überzeugen, verstehen oder einfach Haltung zeigen? Nicht immer ist eine Diskussion sinnvoll oder möglich – manchmal ist es wichtiger, sich klar zu positionieren, auch für das Umfeld und für Betroffene von Diskriminierung.

Warum sind rechtsextreme Positionen in den letzten Jahren gesellschaftsfähiger geworden?

Haas: Das hat mehrere Gründe: Es gibt einen latenten Rassismus, Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, die schon immer da waren – das zeigen Studien wie die der Friedrich-Ebert-Stiftung. Gleichzeitig erleben viele Menschen ökonomische Unsicherheit und durchleben die Polykrisen unserer Zeit hautnah. Das macht sie empfänglicher für rechte Erzählungen, auch wenn das nie eine Rechtfertigung ist. Extrem rechte Parteien haben gezielt Narrative gesetzt und gesellschaftliche Debatten weiter nach rechts verschoben. Hinzu kommt, dass viele Angebote von Parteien oder zivilgesellschaftlichen Organisationen nicht alle Menschen erreichen. Es gibt also eine Mischung aus gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren, die dazu führen, dass rechtsextreme Positionen heute offener vertreten werden.

Was wünschen Sie sich von der Kirche im Umgang mit Rechtsextremismus und völkischen Siedlern?

Ich wünsche mir, dass die Kirche weiterhin ein starker Bündnispartner bleibt, Räume und Infrastruktur für zivilgesellschaftliches Engagement bietet und sich klar positioniert. Auf theoretischer Ebene wäre es wichtig, sich mit der Instrumentalisierung christlicher Begriffe durch rechte Akteure auseinanderzusetzen und eine klare Abgrenzung zu schaffen. Kirche sollte sich nicht auf eine vermeintliche Neutralität zurückziehen, sondern für Menschenwürde und Demokratie eintreten. Gleichzeitig ist es hilfreich, wenn Kirchengemeinden offen für Beratung und Austausch sind, um auch schwierige Situationen gemeinsam zu bewältigen.

Gibt es Beispiele für gelungene kirchliche Initiativen gegen Rechtsextremismus in der Region?

Haas: Ja, ich erlebe in der Region sehr engagierte Kirchengemeinden, sowohl im ländlichen Raum als auch in der Hansestadt. Viele Gemeinden positionieren sich klar, arbeiten in Bündnissen mit der Zivilgesellschaft und erreichen dadurch viele Menschen. Besonders positiv ist, dass es in Niedersachsen Strukturen wie das Bündnis „Kirche für Demokratie gegen Rechtsextremismus“, das Netzwerk Südheide oder das Lüneburger Netzwerk gegen Rechts gibt, die wertvolle Arbeit leisten. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus bietet zudem viele inhaltliche und thematische Impulse, die für die praktische Arbeit vor Ort sehr hilfreich sind.

"Zivilgesellschaft und Kirchen sollten eng zusammenarbeiten und sich regelmäßig austauschen."

Dominique Haas, Rechtsextremismusbeauftragter im Landkreis Lüneburg

Welche Bedeutung hat die Kirche im Engagement gegen Rechtsextremismus auf dem Land?

Haas: Die Kirche ist ein ganz wichtiger Kooperationspartner, wenn es darum geht, Rechtsextremismus entgegenzuwirken, Demokratie vor Ort zu stärken und solidarische Strukturen zu fördern. Gerade im ländlichen Raum sind Kirchengemeinden überall präsent und erreichen Menschen, die von anderen Akteuren oft nicht angesprochen werden. Dadurch entstehen ganz eigene Zugänge, und wir können Menschen auf eine besondere Weise erreichen.

Was braucht es aus Ihrer Sicht im Umgang mit Rechtsextremismus?

Haas: Im Umgang mit Rechtsextremismus ist vor allem Bündnisarbeit gefragt. Zivilgesellschaft und Kirchen sollten eng zusammenarbeiten und sich regelmäßig austauschen – etwa darüber, wie man mit internen Konflikten umgeht. Was passiert zum Beispiel, wenn sich ein Gemeindemitglied offen rassistisch äußert? Wie kann man darauf reagieren? Gerade hier ist der Erfahrungsaustausch enorm wichtig.

Wie kann die Kirche praktisch unterstützen?

Haas: Kirchengemeinden können ihre Infrastruktur zur Verfügung stellen, etwa indem sie Räume für lokale Bündnisse gegen Rechtsextremismus anbieten. So wird das Thema in die Breite getragen, und die Kirche kann einen wichtigen Beitrag leisten. Es ist auch hilfreich, wenn Kirche und Gemeinden über ihren eigenen Horizont hinaus aktiv werden, zum Beispiel Fachtagungen organisieren oder an Demonstrationen teilnehmen. In der Bündnisarbeit kann viel voneinander gelernt werden. Wichtig ist zudem, externe Anlaufstellen wie die mobile Beratung gegen Rechtsextremismus oder meine Stelle als Rechtsextremismusbeauftragter beim Landkreis Lüneburg zu nutzen, damit Wissen und Erfahrungen nicht an einzelnen Stellen gebündelt bleiben, sondern breit geteilt werden.

Wie bewerten Sie den Bezug von Rechtsextremismus zum christlichen Glauben?

Haas: Der Bezug rechtsextremer Tendenzen zum christlichen Glauben ist zweigeteilt. Einerseits gibt es die klassische völkische Idee, die sich auf heidnische Kultur bezieht und das Christentum eher ablehnt oder bekämpft. Andererseits erleben wir zunehmend, dass extrem rechte Gruppen das Christentum für ihre Zwecke vereinnahmen.

So gibt es Akteur:innen, die evangelikal geprägt und rechtsoffen sind, oder Organisationen, die das sogenannte „christliche Abendland“ für sich reklamieren und als schützenswert darstellen. Seit den ersten Pegida-Aufmärschen vor rund 11 Jahren wird die Vorstellung verbreitet, man müsse ein europäisches, christliches Abendland vor einer angeblichen Islamisierung schützen. Dabei handelt es sich nicht um eine theologische Auseinandersetzung, sondern um eine gezielte Instrumentalisierung.

Im Mittelpunkt steht die Idee eines „weißen Volkes“, das durch das Christentum als Identitätsmarker von anderen abgegrenzt wird. Das Christentum dient hier dazu, das sogenannte weiße deutsche Volk von Menschen abzugrenzen die nicht dazugezählt werden – etwa rassifizierte Menschen oder Menschen aus arabischen Staaten, die seit Jahren hier leben. Es findet also eine Vereinnahmung statt, keine echte theologische Auseinandersetzung.

Darum ist Kirche eine wichtige Bündnispartnerin

Warum die Landeskirche eine wichtige Akteurin bei der Aufklärung gegen rechtsextremistische Organisationen ist und wie sie selbst Unterstützung erfahren kann, erläutert Dominique Haas in diesem Video auf Instagram.

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Über Dominique Haas

Dominique Haas ist seit 2023 Rechtsextremismusbeauftragter der Hansestadt Lüneburg. In dieser Funktion koordiniert er die städtischen Maßnahmen gegen rechtsextreme Strukturen und Ideologien, fördert zivilgesellschaftliches Engagement und berät Politik, Verwaltung und Bildungseinrichtungen. 

Der Sozialwissenschaftler (M.A.) bringt langjährige Erfahrung aus der politischen Bildungsarbeit und Demokratieförderung mit. Vor seiner Tätigkeit in Lüneburg arbeitete Haas unter anderem für zivilgesellschaftliche Projekte zur Prävention von Radikalisierung in Niedersachsen. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Analyse völkischer Siedlungsbewegungen, rechtsextremer Netzwerke im ländlichen Raum sowie der Stärkung kommunaler Handlungsfähigkeit gegenüber demokratiefeindlichen Tendenzen.

„Es braucht klare Haltung und verlässliche Strukturen – besonders dort, wo rechte Ideologien unterschätzt werden“, sagt Haas.

Kontakt: dominique.haas@landkreis-lueneburg.de

Unser Kreuz hat keinen Haken

Das Holzkreuz wurde von der Gruppe "beherzt" entwickelt. (Quelle: beherzt)

Die Gruppe beherzt – für Demokratie und Vielfalt e. V. ist eine Gruppe im Wendland (Sprengel Lüneburg), die für die Förderung von Toleranz eintritt und zwar auf allen Gebieten der Kultur und des Völkerverständigungsgedankens und für die allgemeine Förderung des demokratischen Staatswesens im Geltungsbereich dieses Gesetzes.

Das Kreuz ohne Haken ist in diesem Sinne ein Symbol für Vielfalt sowie ein Hinweis auf und eine Warnung vor dem aktiv betriebenen und zunehmenden Einfluss dieser völkischen Ideologien auf alle Teile unserer Gesellschaft.

Die Initiative ist überzeugt: Vielfalt in einer Gesellschaft bedeutet nicht den Verlust der individuellen oder kollektiven Freiheit, sondern garantiert sie erst.

Möchten Sie auch ein Kreuz aufstellen? Dann schreiben bitte an: kreuze@beherzt.info

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