Präsent bleiben im Extremen: Einblicke in den Alltag von Pastor Bernd Paul, Sprengelbeauftragter für die Notfallseelsorge

Wenn das Unerwartete eintritt, bleibt oft kaum Zeit zum Atmen. Gerade dann ist jemand gefragt, der inmitten von Chaos und Schmerz Halt und Orientierung bietet. Pastor Bernd Paul aus dem Wendland nimmt diese Rolle ernst – als Notfallseelsorger begleitet er Menschen in den dunkelsten Stunden ihres Lebens.

Herr Pastor Paul, wie hat sich Ihre Rolle im Kirchenkreis und darüber hinaus in der Notfallseelsorge konkret entwickelt?

Paul: Ich bin seit 21 Jahren Pastor im Wendland, betreue fünf kleine Gemeinden und habe schon ziemlich früh nach meinem Einstieg die Beauftragung für die Notfallseelsorge im Kirchenkreis erhalten. Zunächst war das eine Aufgabe ohne eigenen Stellenanteil, sie lief also nebenher, ergänzend zu den normalen pastoralen Aufgaben. Erst später wurde auf Sprengelebene die Stelle des Beauftragten für Notfallseelsorge eingerichtet, die dann auch als Schnittstelle zu den anderen Kirchenkreisbeauftragten und zur Landeskirche dient – und nach und nach mit anteiligen Stellen ausgebaut wurde. Auch die innerkirchliche Fortbildung und der Austausch mit staatlichen Stellen, wie Polizei und Feuerwehr, gehören inzwischen fest zu meinem Arbeitsfeld. 

Wie entstand Ihr persönliches Interesse an diesem Feld und welches Erlebnis hat Sie am stärksten geprägt?

Paul: Neben einigen schweren Unglücksfällen zu Beginn meines Dienstes hat mich auch die Begegnung mit Eltern geprägt, von denen vor zwanzig Jahren ein Sohn verunglückt war – in einer Zeit, als es solche Begleitung noch nicht gab. Mich hat das bewegt: Wie schlimm ist es, Menschen in solchen Grenz- und Verlustsituationen allein zu lassen? Ich wollte besser vorbereitet sein, deshalb habe ich Fortbildungen besucht und mich immer weiter qualifiziert.

Besonders eingebrannt hat sich mein erster Notfallseelsorge-Einsatz bei einem plötzlichen Kindstod: Mein eigener Sohn war im gleichen Alter. In solchen Momenten kommt die eigene Verletzlichkeit ins Spiel, aber auch das Verständnis für das unermessliche Leid anderer. Und Fälle mit kaum vorhandenem sozialem Netz machen besonders schmerzlich deutlich, wie wichtig jeder mitfühlende Kontakt ist. 


„Gute Seelsorge heißt, präsent zu sein, ohne zu drängen.“

Bernd Paul, Sprengel-Beauftragter für Notfallseelsorge

Was bedeutet für Sie persönlich „gute Seelsorge“ im Notfall und im Alltag?

Paul: Gute Seelsorge ist – gerade in Krisen – vor allem präsent zu sein, Ruhe auszustrahlen und auf die Bedürfnisse der Betroffenen zu achten, ganz ohne zu drängen. Im Akutgeschehen geht es um drei Dinge: stabilisieren, Orientierung bringen und Kraftquellen aktivieren. Ganz wichtig ist das soziale Netz: die Frage, wer wäre Ihnen jetzt hilfreich, wen möchten Sie in Ihrer Nähe haben?

Eine Kraftquelle kann auch das Sprechen eines Gebetes oder eine Aussegnung sein - allerdings nur, nach dem dies von den Betroffenen auch gewünscht ist. Seelsorge heißt für mich zuhören, bei den Menschen bleiben, ihnen Sicherheit und ein Stück Zuversicht vermitteln. Im Alltag sind es oft viele kleine Begegnungen, in denen Vertrauen entsteht und sich zeigt, dass jemand wirklich da ist und bleibt. 

Wie verarbeiten Sie belastende Einsätze, wie wappnen Sie sich für die Herausforderungen dieses Feldes?

Paul: Eine bewusste Vorbereitung gibt es im klassischen Sinn kaum – wir arbeiten in Rufbereitschaft. Mein wichtigstes Werkzeug ist die Erfahrung, ergänzt durch viele Fortbildungen, die mich mental wappnen. Richtig vorbereiten kann ich mich kaum – die Einsätze kommen unvorhersehbar. Ich sammle mich auf der Anfahrt im Auto, oft mit einem stillen Gebet. Nach belastenden Erlebnissen hilft mir der Rückzug in die Natur: ein Spaziergang durch den Wald oder Walken im Wendland bringt mir wieder Ruhe.

Es gibt aber auch Einsätze, nach denen bleibt ein Gefühl von Zufriedenheit, besonders wenn Betroffene sich später bedanken. Manchmal trifft man sie Jahre später wieder, etwa auf der Kulturellen Landpartie, und dann kommt nochmal ein Dankeschön.

Bei schwierigeren Verläufen hilft der Austausch mit Kolleginnen, Kollegen oder im Rahmen von Supervision. Jeder muss hier auf die eigene seelische Gesundheit achten, sonst droht Überforderung.

Gab es auch Erlebnisse, die Ihnen eine ganz eigene Form von Hilflosigkeit vor Augen geführt haben?

Paul: Tatsächlich gab es einen Einsatz, der weniger spektakulär war, mir aber besonders nachging. Nach einem Todesfall suchte ich zu stabilisieren, zu begleiten und fragte nach Angehörigen oder Freunden, die zur Unterstützung gerufen werden könnten. Aber die Kinder wollten nicht kommen, Freunde sagten ab: „So eng sind wir doch nicht.“ Da stand dieser Mensch nahezu allein. In dem Moment wurde mir bewusst, wie sehr wir sonst darauf bauen, dass es ein tragendes soziales Netz gibt, und wie schmerzlich fehlend das im Einzelfall sein kann. Solche Einsätze machen besonders betroffen.

Das Schwierigste ist manchmal, wenn Hilfe abgelehnt wird – aus Schock, Überforderung oder schlichtem Wunsch, allein zu sein. Das ist ihr gutes Recht, wirkt aber auf uns manchmal frustrierend, weil wir gern helfen würden. Schwierig sind auch Situationen, in denen die persönliche Wellenlänge nicht stimmt und der Kontakt nicht gelingt. 


„Mein Glaube ist eine starke Ressource, die mir Sicherheit und Geborgenheit gibt.“

Bernd Paul, Sprengel-Beauftragter für Notfallseelsorge

Wie funktioniert die Zusammenarbeit innerhalb der Blaulicht-Familie?

Paul: Hier vor Ort ist die Zusammenarbeit mit Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst eng. Es gibt regelmäßige gemeinsame Fortbildungen, etwa zum Überbringen von Todesnachrichten, und seit vielen Jahren leite ich ein Einsatznachsorge-Team der Feuerwehr. In diesen Teams bilde ich auch Feuerwehrleute für Gespräche nach belastenden Einsätzen aus. Die Zusammenarbeit basiert auf Vertrauen: Man kennt sich über Jahre, weiß um die jeweilige Fachlichkeit. Gerade nachts bei Einsätzen ist es dann auch beruhigend, ein vertrautes Gesicht bei der Feuerwehr zu treffen. 

Wie erlebt Notfallseelsorge gesellschaftliche Veränderungen?

Paul: Große Krisen wie Fluchtbewegungen oder der Krieg in der Ukraine sorgen weniger für neue Anforderungen im ländlichen Raum, doch die digitalen Kommunikationswege bringen große Verschiebungen: Nachrichten über Unglücke machen deutlich schneller die Runde, als wir reagieren können – was mitunter dazu führen kann, dass Familien von Todesfällen aus Messenger-Gruppen erfahren. 

Es gab einen Fall, da wusste eine gesamte Belegschaft schon von einem Todesfall, noch bevor der Vater selbst von der Polizei informiert war. Da sehe ich unsere Verantwortung, für Diskretion zu sensibilisieren und Aufklärung zu leisten – auch in Feuerwehrkreisen und bei den Hilfsorganisationen. Lokale und regionale Zeitungen berichten meist respektvoll, den „Boulevarddruck“ wie in Großstädten erleben wir selten, erleben aber auch: Öffentlichkeitsarbeit erfolgt immer in enger Abstimmung mit Einsatzleitung und nur, wenn es angemessen ist. 

„Unsere Aufgabe ist, Ruhe zu geben, gemeinsam das Unfassbare zu begreifen und Ressourcen zu aktivieren.“

Bernd Paul, Sprengel-Beauftragter für Notfallseelsorge

Worauf achten Sie bei der Seelsorge für alle, insbesondere für Menschen ohne Kirchenbindung?

Paul: Die Schwelle für Notfallseelsorge ist bewusst niedrig: Unser Angebot richtet sich an alle Menschen, unabhängig von Konfession oder Religion. Auch bei Kirchenmitgliedern frage ich erst die Wünsche ab, bevor ich ein Gebet spreche oder eine Aussegnung vorschlage. Die Kernschritte bleiben für alle gleich: Ruhe geben, gemeinsam das Unfassbare begreifen, Ressourcen aktivieren. Für viele ist das Angebot einer Aussegnung oder eines Gebets wertvoll – oft auch bei Menschen, die keinen Bezug zur Kirche haben. Hintergrund sind oft enttäuschte Erwartungen an Institutionen, aber es gibt auch viele, die trotz Austritt spirituelle Bedürfnisse verspüren, und für sie sind wir auch da.

Welchen persönlichen Stellenwert hat Ihr Glaube bei Ihrer Arbeit?

Paul: Mein Glaube ist eine starke Ressource. Auf der Fahrt spreche ich ein kurzes Gebet und empfinde eine gewisse Geborgenheit, selbst in schwierigen Fällen. Die großen Warum-Fragen – warum Kindern Schlimmes geschieht – sind oft nicht zu beantworten. Wichtiger ist dann einfach auszuhalten, gemeinsam zu schweigen und präsent zu sein. Diese Form von Glauben – präsent sein, durch die Nacht mitgehen und Menschen spüren lassen, dass sie nicht allein sind – ist oft das Wertvollste, was ich geben kann.

Hat sich Ihr Ansatz zur Seelsorge über die Zeit verändert?

Paul: Von Beginn an war Seelsorge für mich Nähe und Präsenz in Extremsituationen; mit den Jahren hat sich Gelassenheit im Umgang eingestellt, aber auch eine hohe Sensibilität dafür, sich ständig weiterzuqualifizieren und das eigene Handeln zu reflektieren. Die Erfahrungen gerade bei Großereignissen, wie etwa während der Transporte von Atommüll durch das Wendland, haben mich darin bestärkt, dass Neutralität, Offenheit und die Bereitschaft, für jeden Menschen da zu sein, entscheidend bleiben – unabhängig von Standpunkt, Religion oder Lebenssituation. 

Blaulichtgottesdienst mit Pastor bernd Paul

Beim ökumenischen Blaulicht-Gottesdienst am Sonntag, 2. November 2025, um 11 Uhr in der St.-Johannis-Kirche Lüneburg sagen wir Danke – für all die Frauen und Männer, die helfen, retten, trösten, begleiten.

Unter dem Motto „Respekt!“ feiern wir Gemeinschaft, erzählen von Erfahrungen mit Einsatzkräften und zeigen, was gelebte Menschlichkeit bedeutet.

Mit dabei:
Regionalbischöfin Marianne Gorka,
Dechant Carsten Menges,
Bernd Paul, Sprengel-Beauftragter für Seelsorge,
und Marcus Christ, Kirchlicher Leiter bei Polizei und Zoll.

Ein Gottesdienst für alle, die im Einsatz sind – und für alle, die einfach Danke sagen wollen. 

📍 St.-Johannis-Kirche Lüneburg, Am Sande
🕚 Sonntag, 2. November 2025, 11 Uhr
 

So ist die Notfallseelsorge organisiert

Die Notfallseelsorge in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers bietet Menschen in akuten Krisensituationen wie plötzlichen Todesfällen, Unfällen oder Suiziden Hilfe für die Seele. Sie begleitet Betroffene durch stabilisierende Gespräche, Orientierung und Aktivierung sozialer Ressourcen, häufig auch in enger Zusammenarbeit mit Einsatzkräften von Feuerwehr, Polizei und Rettungsdiensten. 

Dieser psychosoziale Notdienst ist über die Kirchenkreise organisiert. In jedem Kirchenkreis gibt es Beauftragte für Notfallseelsorge, die vor Ort den Kontakt zu Polizei, Feuerwehr und anderen Einsatzkräften pflegen. Auf Sprengelebene werden diese Strukturen miteinander vernetzt, Einsätze koordiniert und der Informationsaustausch mit der landeskirchlichen Ebene sichergestellt. 

Die Sprengelbeauftragten unterstützen dabei die Kirchenkreis-Beauftragten und halten den Kontakt zu übergeordneten Stellen, etwa zu den jeweiligen Polizeidirektionen. Die Landeskirche qualifiziert berufliche und ehrenamtliche Mitarbeitende für diese Aufgabe und sorgt für eine enge Zusammenarbeit mit staatlichen und sozialen Institutionen. So ist die Notfallseelsorge heute ein fester und unverzichtbarer Bestandteil der psychosozialen Notfallversorgung im gesamten Gebiet der Landeskirche.

Über Pastor Bernd Paul

Pastor Bernd Paul ist seit 2006 Beauftragter für die Notfallseelsorge im Kirchenkreis Lüchow-Dannenberg und seit 2012 auch für den Sprengel Lüneburg und hat in dieser Funktion umfangreiche Erfahrungen mit verschiedenen seelsorgerlichen Einsatzsituationen gesammelt. Sein 50-Prozent-Stellenanteil für die Notfallseelsorge ist im Zentrum für Seelsorge und Beratung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers verortet, zu dessen Arbeitsfeldern die Notfallseelsorge gehört.

Seit 2005 ist er mit seiner Familie im Wendland beheimatet und engagiert sich sowohl in seinen Gemeinden als auch speziell als Ansprechpartner für Menschen in Krisen- und Notfallsituationen.