„Erbarme dich“ – Die Matthäus-Passion als Spiegel menschlicher Emotionen

Kirchenmusikdirektor Dr. Ulf Wellner über die besondere Wirkung von Bachs Matthäus-Passion

Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion gilt als eines der erhabensten Werke der Musikgeschichte. Am Karfreitag, dem 18. April 2025, wird dieses Meisterwerk in der St. Johanniskirche Lüneburg aufgeführt – ein Ereignis, das weit über eine bloße Konzertdarbietung hinausgeht. Im Gespräch mit Dr. Ulf Wellner, Kirchenmusikdirektor im Sprengel Lüneburg und musikalischer Leiter der Aufführung, entfaltet sich die faszinierende Vielschichtigkeit dieses Werkes, das Trauer, Hoffnung und Trost auf besondere Weise verbindet.

Die Matthäus-Passion ist nicht nur Bachs längstes Werk, sondern auch eines seiner ambitioniertesten. Mit zwei Chören, zwei Orchestern und einem Zusatzchor erreicht es eine klangliche Dimension, die ihresgleichen sucht. Wellner betont: „Es ist das größte Werk von Bach – sowohl von der Besetzung als auch von der Länge her.“

Besonders bemerkenswert sei die Sorgfalt, mit der Bach seine Partitur gestaltete. „Er hat eine Schönschrift angefertigt und alle Bibeltexte mit roter Tinte eingetragen“, erläutert Wellner. Diese akribische Arbeit zeigt nicht nur Bachs künstlerische Hingabe, sondern auch die Bedeutung, die er diesem Werk beimaß.

Zwischen Leid und Trost: Die emotionale Vielfalt der Passion

Die Matthäus-Passion ist weit mehr als eine Passionsmusik. Sie spiegelt die gesamte Bandbreite menschlicher Emotionen wider – von tiefster Verzweiflung bis hin zu strahlender Hoffnung. „Es gibt frohe, hoffnungsvolle, ja glückselige Momente in dem Stück“, sagt Wellner und fügt hinzu: „Das Ganze ist eingebettet in eine große Trauermusik, die man als Gefühl in dieser Form gerne annimmt.“

Ein Höhepunkt des Werks ist zweifellos die Arie „Erbarme dich“, deren flehender Ausdruck viele Zuhörer tief berührt. Doch die Wirkung der einzelnen Sätze ist individuell: „Menschen haben ganz unterschiedliche Lieblingsstücke innerhalb solcher Werke“, so Wellner.

"Die besonderen Instrumente wie Oboe da Caccia, Blockflöten und Viola da Gamba  erzeugen zarte, fast impressionistische Klänge.“

Dr. Ulf Wellner, Kirchenmusikdirektor im Sprengel Lüneburg

Klangfarben und Instrumentierung: Bachs meisterhafte Gestaltung

Die Instrumentierung der Matthäus-Passion zeigt Bachs Innovationskraft und seinen Sinn für klangliche Nuancen. Neben den üblichen Streichern und Holzbläsern setzt er auf besondere Instrumente wie Oboe da Caccia, Blockflöten und Viola da Gamba. „Diese besonderen Instrumente erzeugen zarte, fast impressionistische Klänge“, beschreibt Wellner die außergewöhnliche Klangwelt des Werks.

Doch Bach kann auch dramatisch sein: „In Sätzen wie ‚Blitze und Donner‘ entfaltet er eine unglaubliche Kraft und Dynamik,“ betont Wellner. Diese Kontraste machen das Werk zu einem emotionalen Erlebnis.

Die Aufführung in St. Johannis: Ein Gesamtkunstwerk

Die Aufführung am Karfreitag verspricht ein besonderes Erlebnis zu werden. Neben der Sankt-Johannis-Kantorei wirken namhafte Ensembles sowie das Orchester Concerto Brandenburg mit historischer Barockbesetzung mit. Die räumliche Aufteilung in der Kirche unterstreicht dabei die dialogische Struktur des Werks: „Die Chöre sind auf zwei Seiten verteilt – passend zur räumlichen Situation, die diese Musik erfordert,“ erklärt Wellner.

Besonders stolz ist Wellner auf die Einbindung der Singschule: „Der Zusatzchor wird auf einer kleinen Seitenempore singen.“ Diese Kombination aus musikalischer Exzellenz und räumlicher Inszenierung lässt die Aufführung zu einem Gesamtkunstwerk werden.
 
Die Matthäus-Passion lädt dazu ein, sich mit den großen Fragen des Lebens auseinanderzusetzen – Trauer, Hoffnung und Trost finden hier ihren Ausdruck in einer unvergleichlichen musikalischen Sprache. Am Karfreitag in St. Johannis Lüneburg haben Zuschauer:innen die Gelegenheit, dieses Werk in seiner ganzen Tiefe zu erleben.

Die Vorbereitung sei daher nicht nur technisch anspruchsvoll, sondern verlange auch eine intensive emotionale Auseinandersetzung: "Es geht darum, dass der Chor lernt, in den Ausdruck der Musik hineinzugelangen“, so der Kirchenkreis-Kantor.

Die Textvertonung in der Johannes-Passion erfordert dabei eine intensive Auseinandersetzung mit dem biblischen Inhalt. "Die Musik lässt uns den Schmerz, die Dramatik und auch die Hoffnung der Passion Jesu auf intensive Weise erleben. Gerade der Eröffnungschor Herr, unser Herrscher zieht das Publikum sofort in die Handlung hinein."

Dramaturgische Raffinesse – Zentrum im Auge des Sturms

Die Johannes-Passion folgt einer ausgeklügelten Dramaturgie. Zentral steht ein stiller Choral als Herzstück des Werkes – ein Moment intensiver Innerlichkeit. Um dieses ganz stille Zentrum herum sind die Chöre symmetrisch aufgebaut. Das lenkt den Fokus wirklich auf diesen Choral. Gerade dieser Kontrast zwischen stiller Innerlichkeit und dramatischer Erregtheit mache das Werk so eindrucksvoll, ist Voss überzeugt.

Was viele nicht wissen: Heutige Aufführungen unterscheiden sich stark von denen zu Bachs Zeiten. Während damals kleine Ensembles üblich waren, stehen nun rund 145 Sängerinnen und Sänger auf der Bühne: "Das trägt dazu bei, dass man insbesondere die Volkschöre wirklich als Massenerlebnis erleben kann“, so der Musikexperte. 

Trotz dieser Unterschiede betrachtet Voss auch heutige Konzertaufführungen als Erfahrung im Sinne der Verkündigung von Gottes Wort: "Selbst wenn wir sie im Konzert singen, stellt dieses Konzert für mich eine Art Gottesdienst dar."

Über Dr. Ulf Wellner

Dr. Ulf Wellner (*1977 in Hannover) ist ein renommierter deutscher Kirchenmusiker, Musikwissenschaftler und Dirigent. Seine musikalische Laufbahn begann im Knabenchor Hannover, wo er früh seine Leidenschaft für die Kirchenmusik entdeckte. Bereits als Schüler legte er die C-Prüfung für nebenamtliche Kirchenmusiker ab.

Sein Studium der Kirchenmusik absolvierte er an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig, ergänzt durch ein Auslandssemester in Antwerpen bei Joris Verdin. 2003 schloss er sein Studium mit dem A-Examen ab. Nach weiteren Meisterkursen bei Ton Koopman und Andrea Marcon promovierte er 2008 mit einer Arbeit über Michael Praetorius zum Dr. phil.

Beruflich war Wellner an verschiedenen bedeutenden Kirchen tätig: Er leitete den Leipziger Universitätschor (2004–2005), war Kantor an St. Jacobi in Lübeck (2009–2013) und St. Martini in Minden (2013–2023). Seit Dezember 2023 ist er Kantor und Kirchenmusikdirektor an St. Johannis in Lüneburg sowie Fachaufsichtsleiter für Kirchenmusik im Sprengel Lüneburg der Landeskirche Hannovers.

Neben seiner Tätigkeit als Kantor ist Wellner ein gefragter Organist und Dirigent mit Konzertauftritten in Europa und den USA. Er arbeitet regelmäßig mit Ensembles wie Musica Fiata, La Capella Ducale und dem Barockorchester L’Arco zusammen. Zudem engagiert er sich als stellvertretender Vorsitzender der Michael-Praetorius-Gesellschaft und forscht zu Themen wie norddeutschem Barock und Johann Sebastian Bach.

Interview mit Dr. Ulf Wellner

Weltberühmte Passagen wie die Arie „Erbarme dich“ gehören zu den emotionalen Höhepunkten der Passion. Doch welche Sätze besonders berühren, ist individuell verschieden: „Menschen haben ganz unterschiedliche Lieblingsstücke innerhalb solcher Werke“, so Wellner. Die Matthäus-Passion bietet eine Vielfalt an Affekten – von flehender Trauer bis hin zu zorniger Erregung –, die jeden Zuhörer auf seine Weise anspricht.

Ein ausführliches Interview zur Matthäus-Passion mit Dr. Ulf Wellner sehen Sie auf dem Youtube-Kanal des Sprengels Lüneburg.

zum Video

Kartenverkauf

Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach 

Wann: 18. April 2025

Ort: Kirche St. Johannis
Bei der St. Johanniskirche 2
21335 Lüneburg

Mitwirkende: Barck, Krödel, Pohlers, Vieweg, Johanniskantorei, Concerto Brandenburg, Leitung: Dr. Ulf Wellner

Tauchen Sie ein in Bachs größtes Werk, das die gesamte Bandbreite menschlicher Emotionen widerspiegelt – von Trauer über Hoffnung bis hin zu Trost.

Tickets (ab 12 Euro) und weitere Informationen: Hier klicken

Tickets bestellen