„Die Kirchenseele ist nicht mehr da“

Nachricht 23. April 2025

Kirchenverkauf im Hasenwinkel wird Realität

In Rennau wird es künftig still sein. Keine Glocke mehr, die zum Gottesdienst ruft, ohne Stundenschlag und ohne Totenglocke. Denn die Kirche im Ort wird verkauft, die Glocke ist ausgehoben. „Die Gemeinde Hasenwinkel verliert einen Ort, aber sie verliert nicht ihre Verheißung“, sagt Regionalbischöfin Marianne Gorka, die am Palmsonntag im Beisein von Gemeinde, Vertreter:innen des Kirchenkreises Wolfsburg-Wittingen und des Superintendenten Christian Berndt die erste Dorfkirche im Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen entwidmet hat.

Die Glocke verlässt Rennau

Kalt und sonnig war es Anfang Dezember. Die Dorfstraße in Rennau ist vorübergehend nur auf einer Seite befahrbar, denn zur Kapelle hin steht ein Abschleppfahrzeug. „So was mache ich nicht alle Tage“, erzählt die 36jährige Sarah, die sonst Autos und Lkw abschleppt. Durchfahrende Trecker und Lieferwagen müssen sich gedulden und den Gegenverkehr passieren lassen. Was da genau passiert, wirkt unauffällig, wenn auch Regine Müller, Jürgen Brandes, Friederike Böhm, Nando Röckemann, Wolfgang Ezer und ein Dorfbewohner von der gegenüberliegenden Straßenseite das Geschehen beobachten. „Ich freue mich, hier heute was Gutes für die Kirche tun zu können. Ich denke, die Glocke geht zur Restauration“, sagt die Abschleppfachfrau.

Doch die Glocke wird nicht nach Rennau zurückkehren, sie wird auch nicht restauriert. Genauso still wie es künftig in Rennau sein wird, hat die Glocke nach 137 Jahren ihre Heimat lautlos hinter sich gelassen. Die Kirche in Rennau, einer von zehn Orten der Kirchengemeinde Hasenwinkel mit rund zweieinhalbtausend Einwohner:innen und künftig noch drei Gottesdienststätten, stammt vermutlich aus dem 15. Jahrhundert. „Im 30jährigen Krieg wurde sie geplündert“, weiß Wolfgang Ezer, Bauleiter des Amtes für Bau- und Kunstpflege in Celle, einer Einrichtung der Landeskirche Hannovers. Ingenieur Ezer, der, ließe man ihn, fachkundig über in alten Gebäuden wie Kirchen verwendete Baustoffe und damit verbundene Probleme berichten könnte, kann zur Frage, weshalb denn die Kirche ihre Glocke vor dem anstehenden Verkauf hergeben soll, nicht allzu viel Auskunft geben.

Keine Regeln für den Abschied

Wenn auch die evangelische Kirche immer wieder mal in der Vergangenheit Kirchen und Kapellen entwidmet und verkauft hat, gibt es offenbar keine Vorschriften, wie der geordnete Rückzug für Glocken und Altäre zu erfolgen hat. „Es hieß erstmal: Das Geläut muss weggebracht werden.“ Auch Überlegungen den Altar betreffend, habe man angestellt. „Es ist aber meines Wissens bisher kein Beschluss gefasst worden, dass der abgebaut und weggebracht werden soll.“

„Jetzt ist die Kirche raus dem Dorf, das Dorf verliert ein Stück Identität, auch wenn das Gebäude noch steht. Die Kirchenseele ist aber nicht mehr da.“

Jürgen Brandes, Kirchenvorsteher und Lektor im Hasenwinkel

Verlust von Identität und Tradition

Jahrhunderte Geschichte und Leben der Menschen vor Ort stecken insbesondere in Kirchen und Kapellen, hier wurde getauft, konfirmiert, geheiratet und Abschied von Angehörenden genommen. Jürgen Brandes, Kirchenvorsteher und Lektor im Hasenwinkel, wurde in Rennau vor über einem halben Jahrhundert konfirmiert. Zweieinhalb Kilometer von hier ist der 68-Jährige aufgewachsen und schon in seiner Jugend gab es für drei Ortschaften einen Pastor. „Das ist schon ein blödes Gefühl hier heute, würde ich sagen.“

Dass die Gemeinde Hasenwinkel gottesdienstliche Gebäude aufgeben muss, ist bereits länger Thema. Die Entscheidung ist letztlich auf Rennau gefallen, weil dort kaum noch jemand in die Gottesdienste kam. „Jetzt ist die Kirche raus dem Dorf, das Dorf verliert ein Stück Identität, auch wenn das Gebäude noch steht. Die Kirchenseele ist aber nicht mehr da.“ Für den eher stillen Jürgen Brandes sind das große Worte. Im Dorf dagegen herrscht Sprachlosigkeit. Erstaunlich, wo doch sonst jedes Thema breitgetreten wird. Oder ist es Desinteresse? „Ich weiß es nicht. Freiwilliges Kirchgeld, den Gemeindebrief austragen – aus dem Dorf kommt schon einige Jahre nichts mehr.“

Sprachlosigkeit im Dorf

‚Glaube, Liebe, Hoffnung‘ ist das, was die Augenzeug:innen der Glockenaushebung zu lesen bekommen, als der Metallkörper am Hebekran langsam auf die Ladefläche des Abschlepptransporters trudelt. „Wenn man als Pastorin mit dem Beruf anfängt, stellt man sich natürlich nicht vor, im Kirchenkreis die Erste zu sein, die Kirchen aufgibt.“ Friederike Böhm ist seit knapp zwei Jahre im Hasenwinkel, die 33jährige Theologin ist selbst Landkind.

„Glaube, Liebe, Hoffnung – ich frage mich, ob das für die Frömmigkeit der Menschen in Rennau steht? Oder war das der Gedanke eines Einzelnen? Das geht mir durch den Kopf, während ich hier stehe und zusehe, wie die Glocke aus dem Dachgestühl gehoben wird.“ Theologisch gesehen ruft eine Kirchen- oder Kapellenglocke zum Gottesdienst. Nicht unverzichtbar, aber doch über Jahrhunderte Teil der kirchlichen Tradition.

Das letzte Geläut und die Entscheidung zum Verkauf

Das letzte Geläut in Rennau galt vor gut einem Jahr einem Verstorbenen, zum Gottesdienst hat die Rennauer Glocke letztmalig vor Corona gerufen. „Ich glaube, es war 2018. Denn wir tragen uns ja bereits länger mit dem Gedanken, das Gebäude aufzugeben“, erinnert sich Regine Müller, Kirchenvorsteherin und wie Jürgen Brandes auch Lektorin im Hasenwinkel. Die 56-Jährige ist auch Mitglied im Kirchenkreisvorstand und in diesem Ehrenamt bestens vertraut mit den Überlegungen zur Zukunft kirchlicher Gebäude. In Rennau ist sie aufgewachsen, wurde ihre Schwester getauft, sie selbst wurde hier konfirmiert.

Als Mutter von sechs inzwischen erwachsenen Kindern ist die gelernte Krankenschwester pragmatisch begabt. Und auch, wenn es ein Muss ist und kein Weg daran vorbeiführt: „Als ich heute rübergefahren bin, habe ich doch auch gedacht, das ist ganz schön traurig. Aber leider überwiegt bei mir im Moment das Abarbeiten des Notwendigen.“ Wenig Reaktionen habe sie im Ort erlebt, als erste Gespräche anstanden, eine anberaumte Gemeindeversammlung wurde nur von wenigen wahrgenommen. Als dann klar war, wer die Kapelle kaufen würde, ging es los. „Dann haben sich alle aufgeregt. Wieso kauft der das?“

Neue Pläne für das alte Gebäude

Der ist Nando Röckemann, Kinder- und Jugendpsychiater, seit über 30 Jahren lebt und arbeitet ‚der‘ in Rennau. Weil er sich damals in einen alten Hof verliebt hatte. Und später in die ehemalige Dorfschule. „Ich mag alte Gebäude mit Leben füllen.“ Nun ist er also bald auch stolzer Eigentümer einer Kirche. Und die soll für die Gemeinschaft im Dorf und darüber hinaus nutzbar werden, mit Konzerten und Veranstaltungen beispielsweise. „Es ist so ein schönes altes Gebäude mit so viel Geschichte und keiner wollte sie haben.“ Röckemann hat bereits der alten Dorfschule neues Leben eingehaucht, sie ist heute ein „Ort für Events“ mit einem „Spielplatz für alle“, so heißt es auf der Website des Vereines ‚Alte Schule Rennau‘, einem gemeinnützigen Treffpunkt in Rennau. Die Idee, die Initiative und die Anschubfinanzierung kamen von Nando Röckemann.

 „Die Wunde dieser aufgegebenen Kirche wird bleiben. Schämen wir uns nicht, diese Wunde zu zeigen. Denn wenn wir gehen, bleibt doch Gottes Segen und zieht mit uns.“

Marianne Gorka, Regionalbischöfin

Ein Hoffnungsschimmer für die Dorfgemeinschaft

„Ich bin sehr zuversichtlich mit dem, was da jetzt passiert. Das wünsche ich mir, das hoffe ich und daran glaube ich“, sagt Kirchenvorsteherin Müller. „Ich bin sehr, sehr dankbar, dass da einer nicht nur sagt: Es müsste mal… “ ‚Neu‘-Rennauer Röckemann redet nicht nur, er macht. Der Verkauf der Rennauer Kirche ist von der Landeskirche aus genehmigt, der Kaufvertrag „ist in der Mache“, sagt Regine Müller. „Und vielleicht kommen die ja mal auf uns zu und sagen, ihr könnt hier eine Andacht machen. Dann kommen wir.“

Ungewisse Zukunft der Glocke und liturgischer Gegenstände

Die Rennauer Glocke liegt nun in der Ochsendorfer St. Stephani-Kirche. Für wie lange, ist unklar. Denn was damit werden soll, weiß zurzeit niemand. Auch die liturgischen Gegenstände – Taufbecken, Altarkreuz, Lesepult, Paramente, Abendmahlsgeschirr – werden nach der Entwidmung in die Ochsendorfer Kirche gebracht. „Die Wunde dieser aufgegebenen Kirche wird bleiben“, so Regionalbischöfin Marianne Gorka. Sie gehöre zur Kirche heute, einer Kirche, die kleiner wird. „Schämen wir uns nicht, diese Wunde zu zeigen. Denn wenn wir gehen, bleibt doch Gottes Segen und zieht mit uns.“

Text: Frauke Josuweit, Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen

Hintergrund: Entwidmung einer Kirche

Die Entwidmung einer evangelischen Kirche bedeutet, dass das Gebäude offiziell nicht mehr als Gottesdienstraum genutzt wird und damit seine besondere kirchliche Bestimmung verliert. Dieser Schritt ist Voraussetzung dafür, dass die Kirche für andere, nicht-sakrale Zwecke genutzt, verkauft oder gegebenenfalls abgerissen werden kann.

Die Entwidmung erfolgt nach einem formalen Beschluss der Kirchengemeinde und bedarf der Zustimmung der jeweiligen Landeskirche. Sie wird meist in einem besonderen Gottesdienst vollzogen, der den Abschied von dem sakralen Ort markiert und Raum für Rückblick, Dank und Ausblick bietet. In diesem Entwidmungsgottesdienst wird die Gemeinde seelsorglich begleitet, Erinnerungen an das Gemeindeleben in der Kirche werden gewürdigt und die neue Situation thematisiert.

Mit der Entwidmung verliert das Gebäude seinen Status als „öffentliche Sache“ im Sinne des Kirchenrechts und kann einer anderen Nutzung zugeführt werden. Auch liturgische Gegenstände wie Altar, Taufbecken oder Abendmahlsgeschirr werden in der Regel entfernt oder in andere Kirchen überführt.

Im Unterschied zur katholischen Kirche gibt es in der evangelischen Kirche keine Weihe im engeren Sinne, aber auch hier wird das Gebäude als besonderer Ort des Glaubens betrachtet und der Entwidmungsvorgang entsprechend sorgfältig gestaltet.