Neues Dokumentationszentrum in Lüneburg erinnert an Opfer der »Euthanasie« mit Ausstellung »LEBENSWERT«

Nachricht 01. September 2025

Ein Bekenntnis zur Wahrheit und göttlichen Würde

Lüneburg, 31. August 2024

Wie viel war ein Leben mit Beeinträchtigung in der NS-Zeit wert? Was von damals gibt es noch heute? Auf diese und andere Fragen gibt die »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg im Rahmen ihrer neuen Dauerausstellung Antworten. Für insgesamt 1,4 Millionen Euro von Bund und Land Niedersachsen wurde ein Dokumentationszentrum errichtet, das am Sonntag, 31. August 2025, um 14 Uhr im Wasserturm mit altem Badehaus (Haus 34) auf dem Gelände der Psychiatrischen Klinik Lüneburg mit der Dauerausstellung »LEBENSWERT« eröffnet wird. 

Zu den Gästen zählen Maria Bering (Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien), die Niedersächsische Kultusministerin Julia Willie Hamburg sowie Dr. Elke Gryglewski, die Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Regionalbischöfin Marianne Gorka sprach gemeinsam mit Dechant Carsten Menges, katholische Kirche Lüneburg, ein Gebet zur Gedenkfeier. 

"Hier werden Namen, Menschen und ihre Schicksale bewahrt. Hier finden sie Ruhe. Lebens-Geschichten hallen nach. Eine Würde kehrt zurück, die den Opfern genommen wurde."

Marianne Gorka, Regionalbischöfin Sprengel Lüneburg

Ausstellung auf 110 Quadratmetern Fläche

Mehr als 50 Angehörige aus dem In- und Ausland waren ebenfalls dazu angereist, um das Ergebnis der dreijährigen Arbeit anzuschauen, zu der sie mit mehr als 30 Interviews beigetragen haben. Wer alle Interviews mit Angehörigen der Opfer und Täter sowie mit Zeitzeugen der Aufarbeitung der Lüneburger »Euthanasie«-Verbrechen sehen möchte, würde über sechs Stunden Zeit mitbringen müssen. Insgesamt hat es die Ausstellung auf 110 m² Fläche in sich. Durch Schubladen, Klappen und zahlreiche Repliken zum Anfassen, Durchblättern und Betrachten wurde die Ausstellungsfläche nahezu verdreifacht. Doch damit nicht genug, 345 NFC-Chips auf den Ausstellungsmöbeln und in den Vitrinen führen die Besucher:innen zu weiterführenden Informationen – etwa zu einzelnen Protagonist:innen, oder auch mehrseitigen Dokumenten, von denen nur eine Seite exemplarisch abgedruckt werden konnte. 

Für die digitale Vertiefung wurden 1.350 Internetseiten angelegt - in vier verschiedenen Sprachen: Deutsch, Leichte Sprache, Englisch und Polnisch. Ergänzend wurden alle Texte eingesprochen – ob Biografie oder Bildunterschrift. Allein das Anhören der Namen und Lebensdaten aller rund 2.000 Lüneburger Opfer, die in einem Raum an die Wand projiziert und vorgelesen werden, dauert die Länge einer Öffnungszeit, das Anhören der Audiofassung der gesamten Ausstellung einschließlich der Vertiefung würde weit über 50 Stunden benötigen. Weil zudem alle Abbildungen und Objekte mit einer Bilddeskription erschlossen wurden und durch den Einsatz von Braille-Schrift und digitale Tools ein Besuch und das Erfassen der Inhalte auch für Seh- und Hörgeschädigte möglich ist, setzt die Ausstellung auch im Hinblick auf Barrierefreiheit Maßstäbe. 

Konsequente Einbeziehung von Menschen mit Beeinträchtigungen bei der Konzeption

"Hier werden Namen, Menschen und ihre Schicksale bewahrt. Hier finden sie Ruhe. Lebens-Geschichten hallen nach. Eine Würde kehrt zurück, die den Opfern genommen wurde", erinnerte Marianne Gorka im Gebet anlässlich der Kranzniederlegung für die Opfer von „Eugenik“ und „Euthanasie“ auf der Gedenkanlage.

»Unser inhaltliches Ziel war es, in der Ausstellung die Familien, die Menschen mit ihren Geschichten ins Zentrum zu rücken - sowohl Opfer als auch Täter:innen und Tatbeteiligte. Gleichzeitig wollten wir methodisch maximal inklusiv sein. Dazu gehörte auch die konsequente Einbeziehung von Menschen mit Beeinträchtigungen bei der Konzeption«, betont Dr. Carola Rudnick, die vor zehn Jahren ein erstes Nutzungs- und Erschließungskonzept für die Gedenkstätte vorlegte. Um das sicherzustellen, wurde neben einer wissenschaftlichen Fachkommission ein elfköpfiger Beirat eingesetzt, der sich aus Vertreter:innen der verschiedenen Opfergruppen (Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen bzw. mit psychischer Erkrankung) sowie aus Nachfahren der verschiedenen Opfergruppen zusammensetzte. Insgesamt ein Novum auf dem Gebiet der »Euthanasie«-Aufarbeitung.

Die neue Dauerausstellung zeigt zukünftig auf Deutsch, Englisch und Polnisch in fünf Räumen, welches DENKEN Voraussetzung für die Verbrechen war und welche ENTSCHEIDUNGEN den Verbrechen zugrunde lagen. Das HANDELN der Täter:innen und ihre Verbrechen werden im größten Raum dokumentiert, einschließlich der Lebensgeschichten der Opfer. Hierbei geht es nicht nur um die Kindermorde in Lüneburg, sondern auch um die Deportationen im Rahmen der »Aktion T4«, die Zwangssterilisationen und um den gewaltsamen Tod ausländischer Patient*innen. Auch neu ist, dass die Lüneburger Anstalt für Erkrankte aus Bremen, Hamburg-Langenhorn und Hannover-Langenhagen und Wunstorf Endstation war, nach dem Kriegsende ein regelrechtes Massensterben einsetzte, das erst 1947 endete. In GEDENKEN werden alle Opfer namentlich erinnert, und es ist zu erfahren, wie die Familien mit dem Verlust umgingen. 

»Vieles, was uns in den vergangenen Jahren an persönlichen Überlieferungen, seien es Fotos, Briefe oder Erinnerungsstücke von Opfern oder Tätern, überlassen wurde, können wir endlich der Öffentlichkeit zugänglich machen und erzählen die damit verbundenen Geschichten.«

Wissenschaftliche und pädagogische Leitung der „Euthanasie"-Gedenkstätte Lüneburg

Fotos, Briefe oder Erinnerungsstücke von Opfern oder Täter:innen endlich der Öffentlichkeit zugänglich machen

Wie ungebrochen die Gewalt in der Nachkriegspsychiatrie bis heute fortgesetzt wurde, ist im letzten Raum zu sehen, er möchte zum NACHDENKEN anregen. In Abgrenzung zur alten Ausstellung wagt die Ausstellung zudem einen Perspektivwechsel: Kamen früher die Opfer und Täter:innen, wenn überhaupt, ohne Gesicht und Namen vor, lebt die neue Dauerausstellung LEBENSWERT vom Zeigen privater Fotos, von Erinnerungsstücken und von der maximalen Offenlegung der Namen und Lebensgeschichten. So können in einem GEDENKBUCH auch alle bisher namentlich identifizierten Opfer der Lüneburger Krankenmorde recherchiert werden, in einem TÄTERBUCH wiederum werden die Mörder*innen transparent gemacht, einschließlich der meist ausgebliebenen Strafverfolgung nach Kriegsende. »Vieles, was uns in den vergangenen Jahren an persönlichen Überlieferungen, seien es Fotos, Briefe oder Erinnerungsstücke von Opfern oder Tätern, überlassen wurde, können wir endlich der Öffentlichkeit zugänglich machen und erzählen die damit verbundenen Geschichten«, erläutert Rudnick. 

Wie aktuell und gegenwärtig die neue Ausstellung ist, zeigen die Berücksichtigung der Krankenmorde im Städtischen Krankenhaus Lüneburg, die erst vor kurzem intensiver erforscht wurden, die Einbeziehung der Scheingräber auf dem Friedhof Nordwest, die im April dieses Jahres entdeckt wurden, sowie die Nennung der jüngsten Anschläge auf Behinderteneinrichtungen. »Alles, wo wir mit neuen Erkenntnissen in den kommenden Jahren rechnen, zeigen wir bewusst im virtuellen Raum, um jederzeit Aktualisierungen vornehmen zu können«, erläutert Rudnick. Die Ausstellung wird daher nie abgeschlossen sein, auch das macht sie für Besucher*innen zu einem wiederkehrend interessanten Erlebnis. 

"Vor Gott ist jedes Leben unendlich kostbar."

Henry Schwier, Vorsitzender des Trägervereins betont: »Mit dem Dokumentationszentrum erreichen wir einen weiteren Meilenstein und schaffen einen Ort, an dem sich wirklich jeder über die Verbrechen der NS-Zeit an Menschen mit Beeinträchtigungen bis ins Detail informieren kann, Verbrechen, die bis heute strukturell prägend sind. Wir bedanken uns bei allen, die zum Gelingen der Ausstellung beigetragen haben.« 

»In einer Zeit, in der alte, menschenverachtende Gedanken und Ideologien neu aufleben, gilt es, wachsam zu sein: Nächstenliebe, Menschenwürde und Zusammenhalt sind unveräußerliche Werte. Sie gelten allen Menschen, Gesunden und Kranken. Kein Mensch, kein Regime dieser Welt hat das Recht, sie einem anderen zu nehmen« , mahnte Dechant Carsten Menges. 

Regionalbischöfin Gorka ergänzte: »Dort, wo sich Menschen einst angemaßt haben zu urteilen, welches Leben „lebenswert“ sei und welches nicht, erinnern wir daran: Vor Gott ist jedes Leben unendlich kostbar.« 

"Nie wieder darf das Konzept der universellen Menschenwürde angetastet werden!"

Staatsminister Wolfram Weimer: »Mit der Ausstellung ‚Lebenswert‘ vermittelt die Gedenkstätte Lüneburg eindringlich, warum es niemals auch nur gedanklich eine Aberkennung der Menschenwürde geben darf. Sie zeigt, wie sich perfide Ideen gezielt gegen die Schwächsten richteten - gegen erkrankte und behinderte Frauen, Männer und Kinder. Bei den Nationalsozialisten mündeten sie in den ‚Euthanasie‘-Verbrechen der propagierten ‚Rassenhygiene‘. Dieses ideologische Tötungsprogramm lehrt uns für alle Zeiten: Nie wieder darf Menschenleben als ‚unwert‘ gelten! Nie wieder darf das Konzept der universellen Menschenwürde angetastet werden! Genau das macht uns die Gedenkstätte Lüneburg mit ihrer wertvollen Arbeit bewusst. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danke ich sehr dafür, dass sie an die Geschichte von Menschen erinnern, von denen vielfach kein Name und auch keine letzte Ruhestätte überliefert ist.«

Hanna Thiele ist ein Kind der "Kinderfachabteilung" der Landes-Heil-und-Pflegeanstalt Lüneburg, das dort verstorben ist. Die näheren Umstände legen es nahe, dass es sich um ein Opfer der "Kinder-Aktion" handelt. (Foto des Ausstellungsbildes: Marianne Gorka)

Hintergrund:

Mit der neuen Dauerausstellung erinnert die „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg an rund 2.000 Tote sowie mindestens 820 Opfer von Zwangssterilisationen während des Nationalsozialismus. In fünf verschiedenen Themenräumen wird zudem sichtbar, wie die Angehörigen mit dem Verlust umgingen und welche Haltungen und Überzeugungen der Täterinnen und Täter die Grundlage für die Verbrechen bildeten.

Die Gedenkstätte befindet sich auf dem Gelände der heutigen Psychiatrischen Klinik Lüneburg im ehemaligen Badehaus am Wasserturm. Im Deutschen Reich war die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg eine von etwa 31 „Kinderfachabteilungen”. Sie wurde für einige hundert Patientinnen und Patienten zur „Durchgangsstation” auf dem Weg zur zentralen Tötungsanstalt Hadamar. Zudem war sie eine von elf sogenannten „Ausländersammelstellen“, in denen unter anderem Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Geflüchtete aus dem Ausland konzentriert und ermordet wurden.

Die Errichtung des Dokumentationszentrums wurde gefördert vom Bundesbeauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Die Produktion der Interviews und Filme wurde gefördert von der VGH-Stiftung und der Sparkassenstiftung Lüneburg. Die »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg wird institutionell von Hansestadt und Landkreis Lüneburg gefördert. 

Weitere Informationen finden Sie auf der Website der „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg

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Das Dokumentationszentrum der „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg im ehemaligen Badehaus mit Wasserturm auf dem Gelände der Psychiatrischen Klinik Lüneburg, Frühjahr 2025. Bildquelle: »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg, Fotograf: Henry Schwier

weitere Informationen

Das Dokumentationszentrum ist ab September immer donnerstags und freitags von 12 bis 18 Uhr sowie samstags und sonntags von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Gruppen bitten wir um telefonische Voranmeldung unter 04131 60 228970. Der Eintritt ist frei, Spenden sind willkommen. 

www.pk.lueneburg.de/gedenkstaette (ab 3. September 2025 www.gedenkstaette-lueneburg.de)| Dr. Carola S. Rudnick, »Euthanasie«-Gedenkstätte Lüneburg gGmbH | info@gedenkstaette-lueneburg.de | Tel. 04131 – 60 20970 (ab 3. September 2025 04131 – 60 228970)

www.gedenkstaette-lueneburg.de